Von Tafraoute ins grüne Draa-Tal

Schwarzer Honig und bunte Felsen

Hinter den Granitfelsen, die Tafraoute vom Ammelntal trennen, hängen früh am Morgen noch dichte Wolken. Beim Frühstück werden Pläne für den Tag geschmiedet. Die Suche nach dem kleinen Kätzchen hat Priorität. Nur einen Katzensprung entfernt, möchte ich außerdem der niedergelassenen Zahnärztin einen Besuch abstatten. Je nach Erfolg wollen wir dem Wochenmarkt von Tafraoute noch einen Besuch abstatten und dann anschließend den Ort zu Fuß erkunden. Mein Mundhygienetermin vor unserer Abreise hat leider Nachwirkungen, auf die ich gerne verzichten könnte. Seit über zwei Monaten bin ich an einer Stelle im Oberkiefer temperaturempfindlich. Nichts Schlimmes, doch die lobenden Worte eines Schweizer Campnachbarn in Merzouga schwirren bei jedem Stich wie ein Echo in meinem Kopf: "Dis wor fahhhhntastisch, so sauhhhbrrrr, do kaunscht gli vun di Bode schlecke!!!". So hat er seine jüngste Erfahrung mit der Zahnärztin in Tafraoute beschrieben und mir damals angeraten, ein Foto ihrer Kontaktdaten zu machen. Dass ich einen Monat (und einige unangenehme Momente des Zahnschmerzes) später tatsächlich darauf zurückkommen möchte, war nicht absehbar. Immerhin bin ich zuversichtlich was afrikanische Zahnärzte anbelangt, trage ich doch seit über sieben Jahren eine Füllung aus Namibia, wo ich dem Zahnarzt selber assistieren durfte.

Der Fußmarsch ins kleine Stadtzentrum führt über eine breite mehrspurige Allee, vorbei an einen großen Infocenter und einem sympathischen kleinen Soukh hinauf zu einem sehr belebten Knotenpunkt, wo Menschen, Fahrzeuge, Karren und Tiere sich arrangieren. Ines hat vorsorglich etwas Katzenfutter eingepackt und hofft ebenso wie ich auf ein Wiedersehen mit dem grauen Kätzchen. So sehr wir unsere Augen offen halten, fehlt vom Vierbeiner jede Spur.

Als wir im Treppenhaus, des zugegebenermaßen nicht sehr einladenden Gebäudes in dem sich die Zahnarztpraxis befindet, nach oben gehen ruft uns eine Stimme auf Deutsch nach. Es ist der aufdringliche Schlepper vom Vortag, dem unsere Anwesenheit anscheinend nicht entgangen ist. "Brauchst du Zahnarzt, ja ich kenne Frau Doktor sehr gut, sie macht Urlaub, aber ich kann sie anrufen!" keucht der Typ ganz außer Atem. Ich bezweifle selbstlose Absichten seinerseits und spüre eine rasch aufziehende Brise Aggression in mir. Sehr bestimmt sage ich ihm, dass ich keine Hilfe benötige. Der Typ nutzt seine Verschnaufpause um uns wortlos zu überholen und die Ordination noch vor uns zu erreichen. Dort quatscht er die Assistentin auf Arabisch voll, bis sie mich höflich fragt, ob ich den etwas Englisch oder Französisch spreche. Sichtlich überrascht über die nahtlose Konversation, teilt sie uns mit, dass die Ärztin tatsächlich heute frei hat und ich doch gleich Morgen früh vor Neun Uhr kommen mag, um als Erster dranzukommen. Ich erwähne nachdrücklich, das wir selbstbestimmt und auf Empfehlung eines Schweizer Bekannten die Ordination aufgesucht haben und nicht hierher geführt wurden, um etwaigen Aufpreis bzw. Provisionen vorzubeugen. Den nervigen Schlepper werden wir draußen rasch wieder los und sehen anschließend nochmals vergeblich nach dem kleinen Kätzchen.

Umso erfreulicher ist der Anblick zweier vertrauter Menschen wenige Minuten später. "Schau moi, Birgit und Hari, oder?" frage ich Ines. Die beiden stehen mit den Rücken zu uns am anderen Ende einer Straße in wohl unfreiwilliger Gesellschaft des uns bereits bestens bekannten Schleppers. Die Zwei sind, ebenso wie wir, am Vortag angekommen, haben sich jedoch am örtlichen Campingplatz einquartiert. Schnell wird ein Treffen später in einem Kaffeehaus arrangiert, bevor wir weiter zum Wochenmarkt spazieren. Den erleben wir bis auf eine Ausnahme ziemlich unspektakulär. Um den Stand eines Honighändlers schwirren Unmengen an Bienen, verschwinden in den ausgestellten Waben oder lecken und saugen vergnügt an den unterschiedlich farbigen Gläsern. Wir trauen uns näher zu kommen und werden mit einigen süßen Kostproben belohnt. Eine Sorte, die besonders dunkel ist, schmeckt uns beiden hervorragend. Meine wundervolle Frau, die ihr Geld ohnehin am liebsten für (mehr oder weniger notwendiges) Essbares ausgibt, möchte gerne ein großes Glas mitnehmen, was ich ihr nicht abschlagen kann. Unser Treffen mit Birgit und Hari fällt etwas kürzer aus, da wir noch Mittagessen wollen und gewiss sind, uns die kommenden Tage wiederzusehen. In einem ansprechenden Lokal lassen wir uns zwischen einigen anderen Touristen recht faden Couscous servieren, bevor uns der Weg zurück an unseren Stellplatz führt.

Dort hat eine Ziegenherde die schmackhaften Bäume hinter unserem Bus entdeckt und darf sich außerdem über einige Reste aus unserem Gemüsesortiment freuen, die Ines per Hand serviert.

Als der Abend einbricht, besucht uns noch der freundliche Geldeintreiber der Gemeinde auf seinem knatternden Moped. Magere 15 Dirham verlangt der Ort pro Fahrzeug. Trotz der Abwesenheit irgendwelcher Services oder Einrichtungen (mit Ausnahme zweier Müllcontainer) empfinden wir die Gebühr für das ansprechende Ambiente mehr als fair. Sogar eine offizielle und organisierte Note schwingt mit, da wir einen nummerierten Bon als Zahlbeleg erhalten.

Schnellen Schrittes steuern wir am Morgen die Zahnarztpraxis an, wo wir eine absolute Punktlandung hinlegen. Im kleinen Warteraum läuft National Geographic mit arabischer Synchronisierung. Als ich aufgerufen werde, freue ich mich über die sympathisch kompetente Erscheinung der Ärztin. Wobei ich die Kompetenz den zahlreichen Diplomen entnehme, die den Behandlungsraum dekorieren. Sie diagnostiziert ein kleines Loch weit oben knapp vor dem Zahnfleisch, das sie mir gerne reparieren kann. Ihr Hinweis, dass je nach Wirkung, eine anschließende Wurzelbehandlung und weitere Termine nicht auszuschließen sind, stimmt mich weniger Glücklich. Trotz der positiven ersten Eindrücke von Tafraoute, ist ein weiterer zweiwöchiger Aufenthalt nichts, was ich ohne Ines Meinung entscheiden möchte. Außerdem steht mein Geburtstag am kommenden Tag an und der mögliche Verzicht einer herrlichen selbstgebackene Geburtstagspizza meiner Herzensköchin trübt die Entscheidungsfähigkeit. Ich gehe zurück ins Wartezimmer und berichte meiner geduldigen Frau über die möglichen Szenarien. Gelassen meint sie: "Na wenn wir schon da sind, dann lass es besser gleich hier machen!". Wenige Minuten später spüre ich, wie der Bohrer meine Nervenenden kitzelt. Stolz über meine Leidensfähigkeit schließe ich die Augen und lasse sämtliche schmerzhafte Zahnarzterinnerungen der letzten 30 Jahre Revue passieren. Dieser hier ist ein Klacks. Ein weiterer Termin wird für den Anfang der kommenden Woche fixiert. Wenn ich bis dahin keine Schmerzen mehr habe, wird das Provisorium durch eine Plombe ersetzt. Ansonsten steht uns mindestens eine weitere Woche in Tafraoute ins Haus.

Nach einem Glas frisch gepressten Saft, erkunden wir erstmals alle Winkel des örtlichen Soukhs. Hier haben sich die Handwerker auf Babuschen, also marokkanische Pantoffeln spezialisiert. Obwohl am ersten Blick alle Modelle sehr ähnlich aussehen, liegen die Unterschiede im Detail. Ines probiert einige, findet aber kein Paar, das ihr hundertprozentig zusagt. Ich verweigere gänzlich, da die Modelle für Herren ausschließlich in hell leuchtenden Gelb produziert werden. Eine Farbe, die ich mir am unteren Ende meiner Gliedmaßen weniger vorstellen kann.

Meine Freude am Beißen hält sich am folgenden Tag erwartungsgemäß in Grenzen. Immerhin fühle ich kaum mehr Schmerzen, wenn kaltes Wasser oder Joghurt mein Zahnfleisch trifft. Als außergewöhnliche Aktivität an diesem Tag, haben wir uns für eine Wanderung zu den "Painted Rocks" entschieden. Der Weg führt uns vom südwestlichen Ortsende zur Nachbargemeinde, wo uns ein sanft steigender Pfad zwischen Granitfelsen den Weg weist. Der Ausblick ist in jeder Biegung besonders lohnenswert. Auch als der Pfad verschwindet, fällt es leicht sich zu orientieren und nach knapp zwei Stunden ist die weite Hochebene erreicht, die die außergewöhnliche Attraktion beherbergt. Vor über 40 Jahren hat ein belgischer Künstler begonnen, unzählige Felsen bunt zu bemalen. Die Arbeit dauerte über drei Monate an, wobei 18 Tonnen an Farbe verbraucht wurden. Neben der dominanten Farbe Blau, wurden viele Felsen auch Gelb und Rosa bemalt. Seit das touristische Potential erkannt wurde, setzten Einheimische die Arbeit fort bzw. erneuern die Farben in regelmäßigen Abständen.

Uns gefällt die Natur und Weite ringsum mindestens so gut, wie die bemalten Felsen. Der Blick ins Ammelntal und den hohen Bergen dahinter verleiht dem Ort seine wesentliche Schönheit. Ein prächtiger kahler Baum, dessen Astgabeln sich weit in alle Richtungen winden, kurbelt unsere Fantasie an. Sein Stamm scheint sich zwischen den Felsen emporgestemmt zu haben um allerlei Feenwesen Schatten zu spenden. Unsere Jause nehmen wir auf einer abgeflachten blaubemalten Felskuppe ein, schießen einige Fotos und wundern uns wenig später, dass hinter jeder Kuppe noch mehr bunte Granithaufen zu entdecken sind. Länger als erwartet führt uns die Wanderung weiter in den Süden, wo wir am Nachmittag eine seltene Entdeckung machen. Etwa hundert Meter von uns entfernt, glaube ich eine große Antilope erkennen zu können. Das Teleobjektiv natürlich nicht dabei, versuche ich mit dem Standartzoom mein Glück. Tatsächlich handelt es sich um ein gehörntes Exemplar, dessen genaue Bestimmung erst mit Hilfe der Suchmaschine gelingen wird. Ich unterstelle Ines, dass sie diese tolle Begegnung bestimmt anlässlich meines Geburtstags organisiert hat, worauf sie lachend zustimmt.

Am Rückweg blicken wir noch dem sogenannten "Tete du Lion" ins Gesicht. Eine riesige natürliche Formation, die im richtigen Licht den Kopf eines Löwen preisgibt.

Nach 19 Kilometern Wanderung sind wir zurück in Tafraoute, wo wir glücklich und erschöpft den Abend ausklingen lassen. Die Antilope wird als Cuvier's Gazelle bestimmt. Eine seltene Antilopenart, die in den Bergen des nördlichen Maghreb endemisch ist. Auf die Begegnung und mein Jubiläum stoßen wir an. Eine Herde Ziegen zählt zu den Zaungästen und, wie ich meine, gratuliert mir ebenfalls.

Am Wochenende sorgen wir für Abwechslung, indem wir innerhalb des riesigen Geländes den Stellplatz wechseln. Der Neue ist noch etwas entlegener, blickgeschützter und verfügt obendrein über eine Lagerfeuerstelle. Birgit und Hari sind unsere willkommenen Gäste an den Abenden. Gemeinsam wird geplaudert, gelacht und Feuer gemacht. Am Sonntag begleiten uns die Beiden spontan zum Pizzaessen und anschließend schwirren Ines und Birgit gemeinsam durch den Markt um sich bei den Kräuter- und Gewürzhändlern durchzukosten. Dabei erstehen sie etwas Neues, wofür sich Ines als Kräuterkundige unmittelbar begeistern kann. Sufi Kamoun nennt sich die haarige Variante des Kreuzkümmels, der in den Wüstengebieten Marokkos kultiviert wird.

Als ich mit Hari diverse Routen studiere, wirft er ein: "Wir kunnten jo a a Stickerl gemeinsam fohrn", um nachzuwerfen, so etwas bisher noch nicht gemacht zu haben. Ich freue mich über den Zusatz, der suggeriert, dass auch ihre Art zu reisen, ständige Gesellschaft oder fixe Treffpunkte eher ausschließt. Unsere neuen Freunde haben ebenso gerne ihre Ruhe, weshalb wir die Möglichkeit einer gemeinsamen Etappe durchaus in Betracht ziehen.

Abermals beschallt die arabische Variante einer National Geographic Sendung den Warteraum der Zahnärztin. Diesmal schleppt der britische Fernseh-Abenteurer Bear Grylls einen C-Promi über steile Abhänge durchs nebelige Island, während die Ärztin lange auf sich warten lässt. Was die weitere Behandlung betrifft, wiege ich mich in vagen Optimismus. Nach drei unempfindlichen Tagen, hat es am Vortag wieder etwas geschmerzt. Genauso berichte ich es der Zahnärztin, die mir die Entscheidung über das weiter Prozedere überlässt. So sehr ich es schätze, wenn Ärzte zuhören und den Patienten mitbestimmen lassen, wünscht sich diesmal ein kleiner Teil in mir, die weitere Behandlung (und somit die weitere Reiseplanung der nächsten 10 Tage) von ihrer Expertise abhängig zu machen.

Es bleibt bei der "einfachen" Variante ohne Betäubung und weiterer Woche in Tafraoute. Satte 30 Minuten wird kräftig gebohrt und geschliffen, bis die Plombe sitzt. Tatsächlich bin ich danach etwas erschöpft, aber zum größten Teil zufrieden, oder "Ana said", wie ich der Ärztin abschließend mitteile. Ein letzter Blick nach dem kleinen Kätzchen lässt es wiederum nicht erscheinen. Ihr Schicksal bleibt ein Rätsel, während wir unseres wieder, unabhängig von Zahnarztbesuchen, selbst in die Hand nehmen.

Inselhopping im Draa-Tal

Der Weg aus Tafraoute und dem Anti-Atlas Gebirge führt uns in östliche Richtung. Wir schlängeln uns einen gut befahrbaren Gebirgspass hoch, wo wir lange keinem anderen Fahrzeug begegnen. Die Landschaft hat trotz karger Vegetation und wenig Abwechslung ihren Reiz. Der hügelige Schichtnougat fällt hier überwiegend heller aus, als noch eine Woche zuvor im Süden. In der Stadt Tata sind wir vom gewählten Campingplatz positiv überrascht und suchen eine Stelle, wo sich unsere Freunde nebenan platzieren könnten. Wir schicken ihnen ein kurzes Update und freuen uns, Birgit und Hari wenig später wiederzusehen. Glücklicherweise gefällt auch ihnen das Plätzchen und für eine spätere Stadterkundung zu Fuß sind die zwei auch zu haben.

Tata ist entlang der Hauptstraße in die Länge gewachsen und wirkt am ersten Blick überschaubar. Wir entdecken einen Laden ganz nach Ines Geschmack. Offene Säcke voller Kräuter und Gewürze wecken stets ihr Interesse und falls es Unbekanntes gibt, was in Marokko meistens der Fall ist, dann ganz besonders. Das Angreifen, Kosten und Probieren der angepriesenen Ware ist selbstverständlich, wobei manche Schätze erst beim Durchwühlen und nach Entfernen der Staubschichten erkennbar werden. Wermut und getrocknete Zwiebel werden uns eingepackt, während sich Birgit ein Säckchen Lavendel mitnimmt. Danach kehren wir zurück zum Bäcker, der uns vorher bereits aufgefallen ist. Seinen Ofen direkt am Gehsteig platziert, wirft er im Akkord Flade für Flade in die Glut. Als er unser Interesse bemerkt, ladet er uns ein, ihm über die Schulter zu sehen. Wir kaufen einige ganz frische brennheiße Fladen und finden anschließend noch das eigentliche Ortszentrum und die hübsche Moschee. Die Menschen begegnen uns auffallend freundlich, sind gut gelaunt und schenken uns angenehmerweise wenig Aufmerksamkeit. Den Abend lassen wir gemütlich ausklingen, übersehen die Zeit und kommen erst spät ins Bett.

Birgit und Hari sind am nächsten Tag die ersten, die aufbrechen. Bei ihrem Mittagsstopp zu unserem nächsten Ziel Foum-Zguid holen wir sie ein, um uns anschließend zu beeilen. Ein dunkler Sturm zieht am Nachmittag auf, Regen prasselt und der Wind ohrfeigt den Bus unablässig. Zu allem Überfluss freut sich, der seit Wochen nicht benutzte linke Scheibenwischer, so sehr über seinen Einsatz, dass er am Rand der Windschutzscheibe stehenbleibt, anstatt umzukehren. Umso trister wirkt der ausgewählte Campingplatz, als wir ihn erreichen. Das wichtigste Kriterium bei der Platzwahl ist Schutz vor Regen und Sturm, was sich aktuell als schwierig erweist. Gegen Norden hin fügt der Sand den dunklen Wolken etwas rote Farbe hinzu. Unnötige Dramatik liegt in der Luft, als ich die Muttern am Kranz des Scheibenwischers wieder festziehe. Der heftige Wind stellt auch Haris Schutzengel auf die Probe, als nur einen Meter neben ihm ein großer Ast auf die Erde knallt.

Unseren gemeinsamen Stadtspaziergang wagen wir erst spät, als sich die Außenwelt wieder etwas fängt. Nieselwetter begleitet uns durch den Ort, den wir uns auch bei Schönwetter kaum hübsch oder interessant vorstellen können.

Am nächsten Morgen trennen sich die gemeinsamen Wege wieder. Birgit und Hari fahren direkt nach Osten ins Draa-Tal. Wir wollen davor nochmals nach Ouazarzate, Vorräte aufstocken und ein Souvenir ergattern, bevor es für uns vom Norden hinunter ins Draa-Tal geht.

Die Fahrt verläuft zügig, die Wettergötter sind gnädig und Ines übernimmt für einen langen Abschnitt das Steuer. Die Ausläufer des Hohen Atlas werden nach jeder Erhebung sichtbarer und zackige Berglandschaften zieren zunehmend den Horizont.

Vor Ouazarzate halten wir beim ersten von vier großen Keramikgeschäften entlang der Straße. Hunderte Teller und allerlei Gefäße sind am anliegenden Schotterparkplatz ausgestellt und wir werfen beim Einparken bereits ein flüchtigen Blick auf das Sortiment. Dann teilen wir Geldscheine auf und packen verbleibendes Tauschgut in Form von Kleidungsstücken und kleinen Gadgets in den Rucksack. Es dauert nur wenige Momente, bis uns ein älterer Herr mit roter Kappe begrüßt. Noch bevor er zum üblichen Gespräch samt Tee einladet, tragen wir höflich und wahrheitsgemäß vor, dass wir in Marokko bereits mehrere Exemplare von Aufsatzwaschbecken in den Händen gehalten haben und um die Preisvorstellungen wissen. Zwei handgefertigte glasierte Modelle in dunklem Grün finden wir, die uns beiden gefallen. Ines überzeugt mich mit ihrem praktischen Ansatz fast auf Anhieb. "Schau, wenn wir uns da die Hände waschen, spritzts nebenbei nicht raus" sagt sie zuversichtlich mit der großen Schüssel in der Hand. Ich mag es außerdem, wenn sie entscheidungsfreudig ist und stimme ihr nickend zu. Bevor auch nur ein Preis oder ein Vorschlag unsererseits gemacht wird, können wir uns natürlich nicht dem gemeinsamen Tee trinken und Kennenlernen entziehen. Mohammed kommt aus dem Dorf nebenan (es war weit und breit keines zu sehen), hat fünf Kinder, wie er stolz auf seinen Fingern abzählt und noch mehr Enkelkinder, deren Anzahl, die seiner Finger wohl deutlich übertrifft. Wie meistens in Marokko dürfen auch wir uns immer wieder die Frage stellen lassen, wo unsere Kinder sind und wie viele es denn seien. Nur selten trifft Ines ein strenger prüfender Blick, wenn wir entgegnen, dass wir keine haben (weder hier noch daheim). Dann werden wir stets mit marokkanischem Optimismus überhäuft, der uns nahes Kinderglück prophezeit. Die kulturelle Kluft, die wir (in dieser Hinsicht meist selbstbestimmten) Europäer verkörpern, könnte nicht größer sein.

Der alte Händler hat körperlich ebenso wenig Berührungsängste. Mir drückt er laufend die Hand, klopft mir auf den Rücken und verschont auch Ines nicht mit Umarmungen.

Nach der zweiten Tasse werfe ich ihm einen Preisvorschlag zu, der relativ niedrig ist und ihn zumindest einsteigen lässt. Zwei oder drei Runden werden zelebriert, bevor wir unseren Rucksack öffnen und ihm einen Tauschhandel anbieten.  Eine lange ausgewaschene Hose von mir und ein bisher unberührtes Campingbesteck im Taschenmesserformat von Ines wecken sein Interesse. Ein bisschen Geld wechselt ebenso den Besitzer. Bevor wir uns verabschieden, posieren wir zufrieden für ein gemeinsames Erinnerungsfoto.

Die Filmstudios am Ortanfang von Ouazarzate sind deutlich besser besucht, als noch im Februar. Die Saison der Reisegruppen, die sich von Attraktion zu Attraktion schippern lassen, hat begonnen. Über die Wiedereröffnung der kleinen Nische der französischen Supermarktkette Carrefour, "La cave" genannt, freue ich mich mehr. Von extra Securitys bewacht, kann man sich hier eine verpönte Flasche Wein oder Bier kaufen, die anstandshalber gleich blickdicht verpackt wird.

Der ausgewählte Stellplatz südlich des Ortes gefällt uns, entgegen der guten Bewertungen, überhaupt nicht. So starten wir vorzeitig unsere Tour ins Draa-Tal, zur alten Straße der Kasbahs und nehmen noch weitere sechzig Minuten Fahrt nach Agzd auf uns. Zu Beginn, wo die Strecke noch übers Gebirge führt, würde sich so mancher Fotostopp lohnen. Als vom Beifahrersitz des Taxis, das vor uns fährt, eine Getränkedose in hohem Bogen hinausgeschmissen wird und wie ein Torpedo unsere Motorhaube anpeilt, bin ich nicht nur zu einer heftigen Bremsung gezwungen, sondern drücke auch erschrocken die Hupe. Was darauf folgt, ist bitteres Kabarett der dümmsten Sorte. Der Beifahrer, dessen einfältige Emotionen ich gerne aus ihm herausgeprügelt hätte, beginnt alles (!) was er im Fahrzeug findet, aus dem Fenster zu werfen. So bewirken Becher, Zigarettenschachteln, Tücher und fliegende Essensreste, dass ich den Abstand mehr und mehr vergrößern muss. Nach zwei Minuten ist seine Munition aufgebraucht und ein weiteres Taxi überholt uns um die entstandene Lücke zu füllen.

Der Campingplatz in Agzd ist ein hübscher Fleck Erde, am Rande einer Oase des Draa Flusses, eingebettet zwischen kahlen Bergen. Die einzigen Gäste, die dort verweilen sind unsere Freunde Birgit und Hari, die ebenso nicht mit dem raschen Wiedersehen gerechnet haben. Zu unserem Tagesbericht wird noch das neue Souvenir präsentiert, bevor wir uns um die vielen Katzen kümmern, die gekonnt charmant um unsere Beine streifen. Den Streit ums Futter können wir nur durch sorgfältige räumliche Verteilung unterbinden, da wir bei der Menge an Vierbeinern fast den Überblick verlieren.

"Come look!" deutet uns der nette Besitzer des Camps und führt uns durch sein Haus. In den offenen Räumen am hinteren Ende führt er uns den neuesten Wurf vor. "It's way too many now" sagt er und bietet uns an, gerne eine Katze zu adoptieren. Unsere Wahl würde wohl auf den alten dreibeinigen Kater oder den zarten dunkelbraunen Winzling fallen, der besonders streichelbedürftig ist.

Der Morgen in Azgd beginnt trüb und grau, was sich beim Spaziergang durch den Ort fortsetzt. Am Nachmittag laden uns Birgit und Hari zu einem Kartenspiel ein, das in seiner Dauer so ausartet, dass das Finale in ihrer Wohnkabine fortgesetzt werden muss. Gastgeber Hari räumt ab und darf mit der Ehre des "Phase 10 Masters" ins Bett gehen.

Die Rückkehr der Sonne am kommenden Tag ist gleichzeitig der Startschuss zum Wäsche waschen. Danach werden hungrige Katzenmäuler gestopft, wobei sich eine gefleckte Katzenmama und der kleine Braune mit dem schwarzen Kopf besonders hervortun. Der Bewegungsradius des Letzteren beschränkt sich mittlerweile nur mehr zwischen Haris Schoß zehn Meter weiter oben und einen Schoßplatz bei uns. Von Birgit bekommt Ines noch ein kleines Geschenk. Nachdem sie ihre Vorliebe für ähnliche Bücher, Autoren und Genres entdeckt haben, erhält sie eine handgeschriebene Bücherliste samt Vermerken. Eine schöne Geste, die Ines sehr schätzt.

Zum Sonnenuntergang türmen sich wiederum dunkle Wolken am Himmel. Als hätte man ein Ventil geöffnet, dass unentwegt für Wirbel am Himmel sorgt. Dann der erste Donner, auf den rasch der zweite folgt, bis ein kontinuierliches dumpfes Grollen überhand nimmt. Wenn man die Ohren schließt, könnte man glauben, dass wir ins Epizentrum eines Erdbebens geraten sind. Dann ergießt sich ein Hagel über uns, der es vermag den Geräuschpegel nochmals zu erhöhen. Dankbar über den Schutz unseres Busses, fallen uns irgendwann nach Mitternacht die Augen zu.

Am Morgen ist der Campingplatz sichtbar von den Spuren des Unwetters gezeichnet. Vor ihrem Aufbruch erzählt mir Hari, dass er via App nachvollzogen hat, das wir die Nacht inmitten einer Superzelle verbracht haben. Nach der Verabschiedung lässt die erste Nachricht der beiden nicht lange auf sich warten. Birgit schickt Fotos und Videos, in denen sie vorsichtig die überschwemmte Brücke, die von der Stadt zum Campingplatz führt, mit ihrem allradbetriebenen Pick-up überqueren.

Wir wollen ohnehin noch bleiben und haben Lust den nahen Berggipfel südlich von Agzd zu bezwingen. Kurz nach unserem Aufbruch stehen wir vor einer offensichtlichen, wie unerwarteten Hürde. Das Vorgestern noch ausgetrocknete Flussbett, dessen Überquerung notwendig ist, führt logischerweise jede Menge an Wasser. Wir suchen nach geeigneten Stellen, werfen Steine um die tiefe nachvollziehen zu können und schaffen uns somit kleine Inseln, auf denen wir mit Hilfe der Wanderstecken balancieren. Inselhopping nach unserem Geschmack. Der Aufstieg auf den Berg ist dagegen ein Kinderspiel und etwas mehr als eine Stunde später genießen wir einen Rundumblick über das Draa-Tal und die langgezogenen Oasen. Fasziniert von den brüchigen Schieferplatten, die überall aus dem Berg ragen, lassen wir uns beim Abstieg Zeit und erreichen den mittlerweile überraschend gut besuchten Campingplatz nach einem weiteren Balanceakten über den Fluss.

Unser vierbeiniger Freund mit dem schwarzen Köpfchen bildet das Begrüßungskomitee und versucht Ines mit einer Nacken- und Schultermassage von einer möglichen Adoption zu überzeugen.

Nachdem am Abend, innerhalb einer neuen Reisegruppe nebenan, ein lautstarker Streit eskaliert, beschließen wir den bisher so idyllischen Ort am kommenden Morgen zu verlassen. Wir wollen nach Zagora, wo seit Generationen ein Wegweiser den Karawanen die Richtung nach Timbuktu weist. Bis dahin dürfen alle überfluteten Brücken entlang des Weges wieder befahrbar sein, so hoffen wir jedenfalls. Insahallah!

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Kommentare: 5
  • #1

    Ula (Montag, 26 Mai 2025 14:18)

    Beneidenswert eure Erfahrungen die ihr bei dieser Reise sammelt. Alles Liebe von uns!

  • #2

    Johannes (Montag, 26 Mai 2025 20:12)

    Wie immer sehr beeindruckende Erlebnisse. Auf manche könnte ich aber auch gerne verzichten. Aber natürlich gehören auch diese zu so einer „unzensierten“ Reise.
    Wünsch euch auf euren weitern Abenteuern nur schöne Begebenheiten.

  • #3

    Margit (Dienstag, 27 Mai 2025 19:11)

    Wieder sehr interessant denke oft an euch

  • #4

    Andi (Donnerstag, 29 Mai 2025 23:16)

    ��

  • #5

    Hannah (Mittwoch, 04 Juni 2025 18:28)

    Ich hätte vermutöich mindestens 2 kleine Reisegefährtinnen mitgenommen �