Per Achterbahn ans Mittelmeer
Die Achterbahnfahrt am kommenden Tag war nicht geplant. Nach einem kleinen Frühstück im Bus, spazieren wir früh ein letztes Mal durch die Gassen von Fes. Rechtzeitig bevor diese sich füllen, sind wir bereits am Hügel nördlich der Stadt, wo wir das herrliche Panorama der Medina und des grünen Umlands genießen. Ines navigiert uns erfolgreich durch das letzte hektische Gewusel aus Menschen, Karren, Fahrzeugen und Tieren am östlichen Ende der Stadt, bevor wir nach Norden abbiegen, wo wir in weniger als fünf Stunden an der Mittelmeerküste ankommen wollen. Der Esel hat einstweilen tatsächlich einen kleinen Stall unter dem Tisch bekommen, von wo er uns, während der Fahrt sein struppiges Hinterteil zuwendet.
Die Strecke über Taounate, die wir gewählt haben, dauert ebenso solange wie diejenige über Taza, ist dabei aber um knapp 100 Kilometer kürzer. Rückblickend betrachtet, hätte uns diese Tatsache doch etwas stutziger machen sollen.
Entlang der ersten 30 Kilometer windet sich die ordentlich ausgebaute Bundesstraße sanft um die grünen Hügel. Wir kommen zügig voran, singen, rocken, trommeln zu unserer Playlist und freuen uns auf den Nachmittag am Meer. Auch von den ersten Baustellen, die uns auf löchrige Schotterpisten umleiten, lassen wir uns nicht die gute Laune verderben. Es reist sich fröhlich mit einem Esel im Gepäck. Erst bei dem Baustellenabschnitt, der sich über 20 Minuten in die Länge zieht, frage ich bei der Navigatorin nach: "Des gibt's jo ned, oder? Wor do nix eizeichnet vun die gaunzn Baustön?". Ines beschwichtigt (eines ihrer Spezialgebiete) und meint, dass wir noch immer ganz gut in der Zeit liegen. Nach den Baustellen geht es nur mehr bergauf. Zuerst stetig und nach Taounate immer steiler. Die Rückkehr der Nadelwälder, der dunkelgrünen Farben auf zunehmend roter Erde spenden zumindest den Augen Trost. Die Fahrbahn wird einspurig und eng, manchmal zu eng mit Kurven, die oft sehr steil ausfallen. Auch die Fahrzeug verschlingenden Schlaglöcher, die gerne in den Kurven lauern, lassen uns immer öfter die Luft anhalten. Wir sind wieder im Rif Gebirge. Die schroffen und kantigen Gipfel, die Marokkos Norden prägen, sind nur etwas für Diejenigen, die viel Geduld mitbringen. Befahrbare Brücken, geschweige denn Tunnel, sind in dieser Gegend Marokkos nicht zu finden. Unsere Geschwindigkeit pendelt sich bei durchschnittlich 30km/h ein. Nach dem vierten oder fünften Berg, den wir natürlich rauf und runter brettern mussten, kann ich mir das eine oder andere banale Fluchen nicht mehr verkneifen: "Kennan die kane Bruckn bauen? Ned amoi a anzige grode Stroßn!". Dabei ärgere ich mich auch etwas über mich selbst, wo ich doch in den letzten Monaten auf's Neue gelernt habe, Unveränderbares mit Ruhe und Gelassenheit anzunehmen. Um Motor, Bremsen und Gemüt zu schonen, legen wir nach der 134. Serpentine (realistische Schätzung) eine Pause ein. Am Straßenrand haben wir jede Menge Lavendel entdeckt, den wir behutsam pflücken. Die kühle Luft tut gut und lässt uns die Aussicht auf zwei weitere Stunden Achterbahnfahrt leichter annehmen. Wären wir heute ohne ein Ziel aufgebrochen, könnte man den vielen Terrassen und Aussichtspunkten mehr abgewinnen. Anstatt zu fluchen, mime ich lediglich den Esel aus Shrek, der immer wieder fragt, ob wir schon da sind. Ines nimmt es in ihrer einzigartig stoischen Art hin.
Als wir Tarquist erreichen, sind wir noch 50 Kilometer vom Meer entfernt und mittlerweile deutlich länger unterwegs, als wir an diesem Tag sein sollten und wollten.
Das Fischerdorf Cala Iris erreichen wir demnach deutlich später als erwartet, jedoch vor Sonnenuntergang. Am kleinen Campingplatz auf der Klippe begrüßen uns zwei lautstark schreiende Kater. Die Welt ist wieder in Ordnung, als wir uns ein kaltes Getränk gönnen und nach einer herrlichen Dusche früh ins Bett fallen.
Am nächsten Morgen berichtet mir eine rüstige Rentnerin aus Deutschland, die alleine per Wohnmobil durch Marokko reist, dass der Strand unter der Klippe leider nicht so "der Burner" ist. Ich muss über ihre Wortwahl schmunzeln und beschließe mit Ines, der Sache nachzugehen. Obwohl die Temperaturen noch nicht zum Schwimmen einladen, machen wir uns mit Badeshorts und Bikini auf den Weg nach unten.
Der ausgetrocknete Flusslauf, der zum steinigen Strand führt, gleicht einer Mülldeponie. Bauschutt und Unmengen an Plastikmüll wurden hier abgelagert. Wir passen auf, uns nicht an einer der vielen rostigen Dosen zu schneiden, als wir uns den Weg zum Ufer bahnen. Dort sieht es nur unwesentlich besser aus. "Glaubst du, kann das Alles angespült worden sein?" fragt Ines, obwohl sie sich die Antwort denken kann. Das Schwimmen fällt ins Wasser.
Ines erlebt am Nachmittag dafür tierische Highlights. Der dreibeinige rote Kater mit den blutigen und zerfransten Ohren ist uns bereits am Vormittag aufgefallen. Nach einer ersten vertrauensvollen Fütterung, pirscht sich Ines vorsichtig mit dem Wundspray an, um den armen Ding zu helfen. Nun läuft sie dem angeschlagenen Kater abermals, mit dem Spray in der Hand, um den halben Platz nach, um ihn zu seinem Glück zu zwingen. Als sie später aus dem Sanitärhäuschen zurückkommt, zeigt sie mir Fotos einer anderen Begegnung. Eine grüne Gottesanbeterin hat die Damendusche für sich entdeckt. Ines hat das schlanke Ding genau unter die Lupe genommen. Das vordere Beinpaar des Exemplars weist zarte Dornen auf, während die Antennen mit feinen Lamellen ausgestattet sind. Definitiv der Stoff bzw. die Formen aus denen Science-Fiction Filme gemacht werden. Nachdem wir zwei große Ladungen Wäsche ausgiebig per Hand waschen und schrubben, lassen wir den restlichen Nachmittag bewegungsfreier ausklingen.
Knapp 100 Kilometer nordwestlich, nahe El Jebha, haben Birgit und Hari ein Camp bezogen und uns davon ein positives Update geschickt. Wir wollen ihnen am nächsten Tag folgen.
Die Straße entlang der Küste ist in versöhnlich gutem Zustand, teils zweispurig und bietet immer wieder schöne Ausblicke hinunter auf die Mittelmeerküste. Niedrige Wolkenbänder hängen wie Wattefetzen an den Hügeln und streifen manchmal die Straße. Die Steigungen und Abfahrten nehmen wir auf der Etappe nach El Jebha gelassen hin. Das Zentrum der kleinen Stadt besteht aus der langen Gasse hinter der Strandpromenade, wo wir in Sachen Obst und Wasser rasch fündig werden. Über eine steile Rampe geht es wenige Kilometer später hinunter an den Strand, wo das Taghassa Camp liegt. "Nau servas" stöhne ich, als ich den bereits gut gefüllten Stellplatz, der kleiner ausfällt als wir angenommen haben, hinter dem Zaun erkennen kann. Als wir Birgit und Hari wiedersehen, überwiegt jedoch rasch die Freude. Zum gemeinsamen Kaffee wird Hari der unversehrte Kaktus überreicht, der ihm sichtlich gefällt. Danach widmen wir unsere Aufmerksamkeit einem Kätzchen voller Bisswunden. Sie duldet die Behandlung mit dem Wundspray, lässt sich ausgiebig füttern und weicht im Anschluss kaum mehr von unserer Seite. Am nächsten Morgen erkennen wir, dass das Kätzchen sich etwas erholt hat und höchstwahrscheinlich schwanger ist. Ihr erster heimlicher Einstieg in unseren Bus lässt nicht lange auf sich warten.
Danach erliegen wir dem Rauschen der Wellen und den warmen Temperaturen. Es dauert nicht lange, bis wir die Badesachen anziehen und gemeinsam mit Birgit aufbrechen. Am grobsteinigen Strand finden wir unweit des Camps eine Stelle, die geeignet scheint. Der Müll ist gegenwärtig, hält sich am Ufer jedoch in Grenzen. Dort warnen nur tote Seeigel vor stechenden Erfahrungen. Das Meer ist an diesem Tag so klar, wie es kalt ist. Unsere Abkühlung fällt dementsprechend kurz, aber erfolgreich aus.
Den Sonnenuntergang teilen wir mit unseren Freunden. Hari gibt ein Bier aus, während Birgit abermals ihren unerschöpflichen Vorrat an Soletti mit uns teilt.
Am nächsten Morgen heißt es wieder Abschied nehmen. Mittlerweile geübt und zuversichtlich, sich einige Tage später in Tanger wiederzusehen, brauchen wir nicht lange.
Die Stadt der Quälgeister
Unser Ziel ist das Fischerdorf Stehat, am halben Weg nach Tetuan. Die Bundesstraße bahnt sich ihren Weg mittlerweile abseits der Berge, direkt am Meer entlang und führt uns durch viele langgezogene Ortschaften. Erstmals seit längerem winken uns wieder Menschen vom Straßenrand zu. Die gute Laune konservieren wir bis Stehat, wo uns am frühen Nachmittag eine Geisterstadt erwartet. Am Ortsende parken wir als einziges Auto direkt an der leeren Promenade, von wo wir wenig später zu einem Spaziergang aufbrechen. Tatsächlich finden wir Lokale, die nicht nur geöffnet sind, sondern auch Gäste bewirten. Nach einem Kaffee, geht es zurück an unseren Parkplatz und hinunter an den weiterhin leeren Strand. Es bleibt ein ruhiger Wochentag an der Mittelmeerküste Marokkos. Die Wolken haben sich fast gänzlich verzogen, als am späten Nachmittag einige Teenager und Fischer die ersten sind, die den Strand besuchen. Langsam erwacht Leben im Dorf. So sehr, dass wir gerade bei den Kindern Aufmerksamkeit erregen. "Give me money!" ruft ein frecher Dreikäsehoch, der mit seinem neuen Fahrrad unseren Bus umkurvt. Nicht zufällig, beginnt auch eine Gruppe kleiner Kinder neben unserem Bus Fußball zu spielen. Während Ines gerade liest und ich am Schreiben bin, knallt es so laut an unserem Bus, dass man meinen könnte, eine Rakete hätte uns getroffen. Ich stürme aus den Bus und richte einige laute Worte an die Rabauken. Der Auftritt nervt, genauso wie die Wahrnehmung der Kinder, die uns hier nur als wandelnde Geldspender willkommen heißen würden. Da wir kein Geld verschenken, muss nun unser mobiles Zuhause leiden. Der Schrecken ist den Kindern immerhin anzusehen. Als ich mich wieder umdrehe, erkenne ich im Augenwinkel einen jungen Mann, der den Kindern etwas deutet. "Sorry, please!" sagt er höflich zu mir und entschuldigt sich mit milden Gesten für die Rabauken, bevor er zu einem kleinen Holzverschlag zurückkehrt, wo sich noch ein paar andere Männer tummeln. Ich freue mich, dass zumindest ein einheimischer Erwachsener das Verhalten der Kinder nicht gutheißt und beschließe wenig später zu den Männern hinzugehen. Einerseits um mich erkenntlich zu zeigen, andererseits in der Hoffnung, durch deren Gesellschaft Ines und mich wortwörtlich aus der Schusslinie zu nehmen.
Omar, bei dem ich mich bedanke, stellt sich mit einem breiten Lächeln vor und bietet mir sofort einen Plastikstuhl an. Neben ihm schneidet sein Kollege Jamal mit einem kurzen Messer die Enden eines Fangnetzes, während am Boden ein weiterer Fischer am selben Netz knüpft. Die Unterhaltung stockt manchmal, da nur Omar ein paar Brocken Spanisch und Französisch spricht. Die Übersetzungs-App am Handy sorgt jedoch nicht nur für Abhilfe, sondern wird im Gespräch mit den Männern zu einem richtigen Freudenspender. Omar zeigt mir auf seinem Smartphone stolz die Bilder seines letzten Fanges. Darauf hält er mit beiden Händen einen Schwertfisch, den er mit seiner Harpune erwischt hat. Das Fischen ist die große Leidenschaft der Männer. Am frühen Morgen, wenn die See besonders ruhig ist, fahren sie regelmäßig hinaus um ihre Netze auszulegen und Thunfische zu fangen. Omar berichtet euphorisch, wobei sein ansteckendes Lachen immer eine prächtige Zahnlücke preisgibt. Bald sind wir von weiteren Freunden und Bekannten umgeben. Manche betätigen sich helfend, andere sind offensichtlich nur neugierig und später kommen zwei heitere Freunde dazu, die die Runde mit ihren Haschpfeifen bereichern. Ein glatzköpfiger Älterer in glänzender Sportweste kommt auch noch dazu. Er spricht als Einziger gut französisch und drückt mir wenig später bei seiner Verabschiedung (inklusive freundschaftlicher Umarmung) gleich zwei Küsschen auf die Wangen. Während seines Kurzauftritts hat er sämtlichen Redeanteil für sich beansprucht und dabei auch mich zum Lachen gebracht. Als ich im Anschluss den verbleibenden Männern, via Übersetzungs-App kundtue, dass dies wohl ihr Bürgermeister gewesen sei, brechen sie in Gelächter aus. Ich darf den Satz, der aus meinen Smartphone ertönt, noch mehrmals mit selber Wirkung wiederholen. Die Einladung, am Morgen mit ihnen raus aufs Meer zu fahren, schlage ich aus. Ebenso die Einladung, mit ihnen am Abend das wichtige Fußballspiel zu verfolgen. Nach zwei sehr versöhnlichen Stunden, die rasch vergangen sind, ist es Zeit zu meiner Frau zurückzukehren.
Mit der Dunkelheit hat sich zu unserer Überraschung sowohl der Strand, als auch die Promenade gut gefüllt. Familien sind zu erkennen. Mütter mit Kindern und viele Jugendliche sind gegen 22:00 unterwegs. Als wir uns eine Stunde später nochmals hinaussetzen, um dem Treiben noch kurz zuzusehen, wecken wir abermals die Aufmerksamkeit eines Buben. Der Frechdachs, der Mittags schon Geld wollte, ist auf seinem Fahrrad zurück und unternimmt einen weiteren Anlauf. Gerade als wir uns dem Bub entledigen können, spielt Ines sanftes Herz ihr einen Streich. Sie lässt sich erweichen, dem Bub Kekse anzubieten. Zuerst greift er nur zaghaft zu, um kurz zu verschwinden und wenig später mit einem zweiten Bub im Schlepptau zurückzukehren. Sie klopfen an die Bustür und wollen Nachschub. Das Spiel geht noch zweimal so, bis Ines die Türe abermals öffnet und nun 6 Kindern auf ihren Fahrrädern in die Augen blickt. Von Zurückhaltung keine Spur mehr. Sie reißen förmlich an dem Sackerl und nehmen was sie kriegen können. Kein Wort oder Geste der Dankbarkeit. Nach Mitternacht machen sich die gleichen Kinder dann einen Spaß daraus, um unseren Bus zu kreisen und immer wieder zu klopfen. Dann habe ich die Nase extrem voll und fahre aus der Tür, von wo ich sie gerade noch wegradeln sehe. Sie kommen anschließend trotzdem wieder zurück, um einige Runden um uns zu drehen, trauen sich jedoch nicht mehr zu klopfen oder zu betteln. Wir fragen uns, wer und wo die Eltern sind, deren junge Kinder nach Mitternacht Fremde belästigen. Besonders Leid tut mir die enttäuschende Erfahrung für Ines, die bei Kindern oft so weich wird, wie ich bei manchen Katzen.
Als die Geräusche der Menschen spätnachts immer länger verstummen, hält uns nur mehr ein Blödmann vom Schlafen ab, der bis 5:00 Uhr früh im Halbstundentakt mit lauter Musik an uns vorbeifährt und direkt neben uns auch gerne mal anhält.
Nach der kürzesten Nacht, die wir auf marokkanischen Boden verbracht haben, verwerfen wir die Idee, weitere Fischerdörfer entlang der Küste zu besuchen und brechen auf, um eine Oase anzusteuern. Der "sichere Hafen", der uns ruhige Nächte bescheren soll heißt "Miramonte" und ist das Camp in Tanger, wo wir die ersten Nächte in Marokko verbracht haben. Die Aussicht hilft, über die vergangen Stunden hinwegzusehen und nach einem Stopp in Tetuan, trennen uns weniger als zwei Stunden von unserem Ziel. Theoretisch. Denn das Verkehrschaos, dass ein Unfall in einem Kreisverkehr bewirkt, war natürlich nicht vorhersehbar.
Auf Wiedersehen, Marokko!
Das Ankommen im Miramonte Camp fühlt sich angenehm vertraut an. Der höfliche Portier hält sich die Hand aufs Herz und winkt freundlich, als er uns wiedererkennt. Am Platz blüht und leuchtet noch mehr als im Februar, was nicht nur der sanften Nachmittagssonne geschuldet ist. Als am Abend Birgit und Hari auf einen letzten gemeinsamen Drink auf afrikanischen Boden zu uns stoßen, ist unsere Welt wieder vollends in Ordnung. Unsere Freunde haben keine Lust mehr auf weitere Tage in Tanger und wollen am kommenden Morgen die Fähre nach Spanien nehmen.
Wir winken ihnen in der Früh ein letztes Mal zu und machen uns danach zu Fuß ein weiteres Mal auf den Weg in die Medina von Tanger. Unterhalb der Kasbah finden wir ein hübsches Restaurant, das einige vegetarische Speisen anbietet und obendrein mit einer gemütlichen Dachterrasse lockt. Satt und zufrieden stolpern wir danach unabsichtlich in eine Kooperative, wo uns im Rekordtempo unzählige Tücher und Teppiche vor die Füße geworfen werden. Als der Tee brutzelt, planen wir bereits unsere elegante Flucht.
Nachdem wir im Inwi Mobilshop lange in der Schlange stehen, um unseren Handyvertrag erfolgreich zu kündigen, besuchen wir den modernen Feinkostladen, wo Ines bereits im Februar Arganöl gekauft hat. Sie möchte ihrer Mutter und Schwester ebenfalls ein wertvolles Fläschchen mitbringen und verhandelt so geschickt, dass sie den hohen Preis auf eine faire Summe drücken kann. "Nau, des host richtig guad gmocht" lobe ich sie, um ihre Euphorie wenige Meter später wieder bremsen zu müssen. "Aber, er hat gesagt, es ist für seine Kinder". "Er" ist der barfüßige Bettler, der vor einem Laden steht und Ines ins Visier genommen hat. Sie willigt ein, ihm etwas Essbares zu kaufen. Als der Bettler, zwei Sardinendosen und eine Packung Schwarztee auf dem Tresen platziert, schreite ich ein. "So ned, vun mir aus, die ane Dosn, oba a Brot oder Butter waradn gscheida". Ines bezahlt die eine Dose und wir setzen uns anschließend am Grand Socco Platz neben einer einheimischen Frau auf die Parkbank. Als der Bettler wenig später auch die Dame neben uns vergeblich anschnorrt, beginnen wir uns mit ihr zu unterhalten. Sie warnt uns, diesem "Typen" ja nichts zu kaufen. Er arbeitet mit dem Händler in dem Laden dort vorne zusammen, erklärt sie und deutet auf eben jenes Geschäft, dass wir vor wenigen Minuten verlassen haben. Der Trick funktioniert so, dass er sich nur gut verpackte Artikel kaufen lässt, um sie am Abend dem Händler, unbenutzt, gegen den etwa halben Preis zurückzugeben. Der Gewinn fließt bestenfalls in Drogen meint die Dame, während sie den Kopf schüttelt. Von Ines hilfsbereiten Alleingang war ich wenig begeistert, jedoch ärgert es mich noch mehr, dass jemand ihre Gutherzigkeit so ausgenutzt hat.
Um unseren Freund Abdoul, den Museumsmitarbeiter der uns zu Ines Geburtstag eingeladen hat, zu besuchen, ist es mittlerweile zu spät geworden. Ohnehin kommt der gebrauchte Nachmittag keinem passenden Abschied von Tanger gleich.
Am nächsten Tag ziehen wir aufmerksamer und zielstrebiger durch die Altstadt, stolpern nirgendwo hinein, halten an ausgewählten Orten und versuchen nur den freundlichsten Zeitgenossen Gehör zu schenken. Im syrischen Restaurant, lassen wir uns abermals Leckereien servieren, wie bereits an Ines Geburtstag. Auf der Terrasse eines kleinen Cafés über dem Grand Socco, beobachten wir bei einem frisch gepressten Saft, wie die Männer vom Mittagsgebet aus der Moschee zurück in die Gassen strömen. Dann spazieren wir, über uns bisher unbekannte Gassen, zum Museum der Kasbah. Unser Freund Abdoul hat Dienst und freut sich über die gelungene Überraschung. "Why didn't you tell me, i could have arranged something" sagt er lachend. Seinen Dienst übernimmt kurzerhand ein Kollege, während er uns zum Teehaus nebenan führt. Natürlich entkommen wir einer Einladung nicht. Abdoul ist der erste Marokkaner, der uns gegenüber leise Kritik an einigen Zuständen im Land übt. Er hält wenig davon, dass in Marokko derzeit kostspielige neue Fußballstadien gebaut werden, um sich bei der nächsten Kontinentalmeisterschaft zu präsentieren. Viel dringender braucht Marokko Schulen, Bildung, Krankenhäuser und Museen, so sein Fazit. Er lässt tief blicken, zitiert Poeten und Musiker und verströmt dabei eine ansteckende Ladung Zuversicht. Zur Erinnerung lassen wir noch ein gemeinsames Bild knipsen und machen uns am Rückweg zum Camp. Ein schöner und würdiger Abschluss für unsere Tage in Tanger und unsere Monate in Marokko ist erreicht.
Im Camp wird der Bus abfahrbereit gemacht, um am kommenden Morgen die Rückkehr nach Europa anzutreten. Die Zeit ist reif.
Als "Stammgäste" des Camps bezeichnet uns der junge Manager am Morgen unserer Abreise und erlässt uns sogar die Gebühr für die letzte Nacht. "You're always welcome, and...you might write a review!" lauten seine Worte, bevor wir am Morgen, zum knapp eine Stunde entfernten Fährhafen, aufbrechen. Ines hat die Eingabe, den überraschend verfügbaren Betrag an marokkanischen Dirham noch loszuwerden. Entlang der Strecke entdeckt sie einen Markt, wo wir noch kurz halten können. Reicher an Erfahrung, begleite ich sie diesmal. Etliche Oliven, drei Avocados, Kaffee und ein kleiner Sonnenschirm im Wassermelonen-Look werden in nur wenigen Minuten erstanden und eingepackt.
Die Formalitäten am Terminal sind rasch erledigt, was nicht für die Schlange am mobilen Röntgengerät gilt. Als wir auch diese Hürde meistern, trennen uns nur mehr drei weitere Passkontrollen und Spürhundbesuche von der Rampe zur Fähre. Am Deck des Balearia Transportschiffes werfen wir einen langen letzten Blick zurück auf das Land, das wir 3 Monate intensiv erkunden durften.
Unsere Reise durch Marokko glich oftmals einer Achterbahn. Vielen Gipfeln, mit wunderbaren Aus- und Weitblicken, folgte auch der eine oder andere Tritt in den Allerwertesten. Die positiven Erfahrungen in ihrer immensen Intensität überwiegen bei weiten. Auch wenn manche Tritte ein wenig sanfter hätten ausfallen dürfen, war es die lehrreiche Erfahrung, außerhalb der Komfortzone, die wir uns gewünscht hatten. Wie wir es vor 7 Jahren bereits erleben durften, stellt eine ausgiebige Reise nach Afrika immer einen Einschnitt dar. Speziell in den ländlichen Gebieten wird man mit derart vielen Extremen konfrontiert, dass es nach der Rückkehr unmöglich erscheint, die eigenen Ansprüche und die Lebensentwürfe unserer Gesellschaft, nicht komplett hinterfragen zu müssen. Von der Armut bis zur überwältigenden Schönheit und Verletzlichkeit der Natur – der Kontrast zur Erste Welt Oase daheim ist riesig. Selbstverständlichkeiten waren auf unserer Reise die Ausnahme und wenn statt Sicherheit Risiken auf einen warten, wird der Blick fürs Wesentliche geschärft. Ein ausgezeichneter Nährboden für Erkenntnisgewinn und Bewusstseinssprünge, wie wir meinen.
Die eigene Partnerin nach so vielen gemeinsamen Jahren, wiederum ein Stück mehr zu schätzen und lieben zu lernen, gehört ebenso zu den Wundern einer solchen Reise.
Die Bilanz unserer Marokkoreise in Zahlen überrascht uns selber: 81 Tage, mehr als 7600 Kilometer im Bus, mehr als 420 Kilometer zu Fuß sowie 34 verschiedene Übernachtungsplätze stehen zu Buche. An 4 Orte sind wir ein zweites Mal zurückgekehrt. Kein einziger Autounfall und keine Panne ist uns passiert. Al-hamdu lillah!
Die schönsten Erinnerungen kennen keine Zahlen: unzählige Einladungen und Gespräche, neue Freundschaften und Momente des Miteinander und der Verbundenheit über alle kulturellen Grenzen hinweg. Das Alles vor einer oft überwältigenden Naturkulisse.
Die Chancen stehen gut, dass wir wiederkommen. Spanien ist in Sichtweite - wir könnten glücklicher kaum sein!
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Andi (Montag, 23 Juni 2025 14:28)
Welcome back am europäischen Kontinent!
Angelika (Donnerstag, 26 Juni 2025 15:30)
Schön dass es Euch gut geht und Ihr uns auf die Reise mitnehmt!
Ula (Montag, 30 Juni 2025 10:03)
Sehr schöne Erfahrungen, die ihr gesammelt habt, eine andere Welt! Danke, dass wir an eurer Reise teilnehmen durften.
Xandi (Mittwoch, 02 Juli 2025 20:17)
Schön zu lesen das ihr so eine tolle Zeit hattet und so unvergessliche Erfahrungen sammeln durftet! �